Valparaíso, oder kurz Valpo, ist eine Stadt an der Westküste Chiles unweit von Santiago. Sie ist sozusagen die lockere Variante von Santiago. Eigentlich hatten wir vor, in Valpo nur zwei Tage zu verbringen, um uns die hügelige Stadt mit ihren zahlreichen Cerros und ihrer einzigartigen Streetart-Szene anzusehen und dann weiter den Norden von Chile und Argentinien zu erkunden. Daraus wurde für mich aber fast eine ganze Woche. Es standen nämlich wieder einige Arbeiten an, diesmal war es die Paper Revision. So ein PhD verfolgt einem länger, als es einem lieb ist ;-).
Unsere beiden gemeinsamen Tage in Valpo verbrachten wir vor allem mit Fotografieren und der Erkundung der Stadt. Um das gute Morgenlicht zum Fotografieren zu nutzen, war Paedi sogar freiwillig um sechs Uhr aufgestanden, was sonst eine Rarität ist für einen Nichtarbeitstag :-). Paedi hat sich dann für den nächsten Tag einen Flug auf Papa Nui gebucht, quasi die Erfüllung eines langersehnten Traums. Während er also allein auf Rapa Nui flog, blieb ich in Valpo, um in Ruhe und mit guter Internetverbindung arbeiten zu können.
Es ist interessant, was man alles entdeckt, wenn man einen Gang zurückschaltet und an einem Ort einmal länger bleibt als nur zwei Tage. Ich war selbst stationär, aber in meinem Hostel war ständig Betrieb. So kam es, dass ich in dieser Zeit neben Martha und Nacho, meiner lieben Host-Family, die sich wirklich liebevoll um mich gekümmert haben, auch viele andere nette und interessante Menschen getroffen habe. Da war der Dramaturg Sergio aus Brasilien, der sich sehr für meine Forschung interessierte. Als Sohn eines erfolgreichen Arztes und Forschers hatte er seinen Job als Zahnarzt vor vielen Jahren aufgegeben, um sich seinen eigentlichen Interessen, der Kunst und dem Theater, zu widmen. Er war extra für das Festi-Lambe, ein internationales Festival für Puppentheater, nach Valpo gereist, und präsentierte dort sein Werk. Ich habe mich wirklich sehr gut amüsiert auf diesem Festival, wozu er mich eingeladen hatte.
Eine interessante Begegnung waren auch drei junge Reisende aus Istanbul, die eines Nachmittags in meinem Hostel auftauchten. Ich habe mich sofort sehr gut verstanden mit Gamze, Kıvanç und Mert und habe die Abende mit ihnen in Valpo verbracht. Ohne Paedi waren auch die Konversationen mit meinem eingerosteten Türkisch gut möglich. Bei diesen langen abendlichen Gesprächen haben wir uns nicht nur über unsere Erlebnisse in Patagonien ausgetauscht, sondern auch viel über die aktuelle politische Situation in der Türkei diskutiert. Die recht Erdoğan-kritischen Reisenden haben mir viel über die aktuelle Lage in der Türkei erzählt. Nicht nur die schockierenden Tatsachen mit der Repression der Opposition und der Journalisten, die man auch bei uns in den Medien lesen kann, sondern auch über ihre eigenen Erfahrungen im Alltag. So etwa von Dingen, die früher selbstverständlich waren und heute nicht mehr möglich sind oder wie Freunde von ihnen verhört oder verhaftet wurden, nachdem sie Regime-kritische Aussagen auf Twitter verbreitet hatten. Es ist traurig zu sehen, dass drei junge Menschen mit soviel Potential ihrer unsicheren Zukunft so ängstlich entgegensehen müssen. Die aktuelle Entwicklung in der Türkei beunruhigt auch mich und ich kann mir nur bessere und demokratischere Zeiten für die Türkei herbeiwünschen. Wenn man diese Geschichten hört, schätzt man einfach die Demokratie, in der man lebt. Ich kann mich bei Bedarf über den Kanzler beschweren, ohne mich vor Gericht verantworten zu müssen. Auch sonst schätzte ich meine EU-Bürgerschaft, wenn ich sah, wieviel komplizierter es für die drei zum Reisen war. Alleine ihren Rückflug nach Istanbul zu buchen war so viel umständlicher. Ein halbwegs günstiger Flug mit Zwischenlandung in den USA, Deutschland oder Norwegen kam nicht in Frage, da mit einem türkischen Pass selbst für einen Transit ein Visum mit aufwendigen Anträgen erforderlich gewesen wäre. Das Leben auf den luftigen Cerros von Valpo war sehr angenehm, ein guter Ort zum Arbeiten. Alles war im touristischen Teil des Cerro Concepcion und Cerro Allegre gut zu Fuss erreichbar. Ich ging die vielen steilen Treppen auf und ab oder nahm eines der zahlreichen Funiculaires und verirrte mich auch gelegentlich in den kleinen Gassen. Die Wände der Häuser auf den über 40 Hügeln der Stadt glichen einem fröhlichen Potpourri vieler Farben. Ich habe mir versucht vorzustellen, wie die Stadt wohl ohne diese vielen Farben aussehen würde. Graue, heruntergekommene Betonwände mit störenden Stromkabeln, eine trostlose Vorstellung. So gefiel mir die Stadt deutlich besser! Die Graffitis waren einfach überall. Manche der Graffitis waren nur hübsche Bilder, andere wiederum hatten auch eine politische Message. Die Häuser im historischen Zentrum von Valparaíso sind als UNESCO Weltkulturerbe geschützt. Paradoxerweise sind einige damit leider auch dem Verfall ausgesetzt, wie uns ein Guide erzählte. Weil die Bevölkerung an den Häusern ohne die Zustimmung von UNESCO nichts ändern kann, werden viele Projekte nicht weiterverfolgt. Nicht jeder in der Stadt schien aber mit der fortschreitenden Gentrifizierung auf gewissen Cerros happy zu sein, obwohl die schicken Cafés der Stadt auch Tourismus, Jobs und damit mehr Wohlstand und Sicherheit bringen. Ich war jedenfalls dankbar in gewissen Teilen von Valpo der urbanen, globalisierten Welt wieder ein Stückchen näher zu sein, in netten Cafés zu sitzen und endlich nach Herzenslust wieder Thai Food, Sushi und Ceviche essen zu können. Eine richtige Wohltat nach zwei Monaten patagonischer Küche. Fast wie back home in good old London.
Während einer Arbeitspause besuchte ich eines Nachmittags den Polanco-Lift, um die Aussichten über die Stadt zu geniessen und die La Sebastiana, eines der drei Häuser von Pablo Neruda in Chile. Der Dichter des Volkes, wie die Chilenen den Literaturnobelpreisträger gerne nennen, war wahrlich ein Mann mit Stil und blühender Fantasie. Ich war beeindruckt von seiner exquisiten Sammlung von originellen Gegenständen aus aller Welt wie beispielsweise den antiken Weltkarten oder einem hölzernen Karussell-Pferd aus Paris. Sicherlich war es zu seiner Zeit schwieriger, an diese ausgefallen Gegenstände zu kommen als heute mit Online-Shopping ;-). Da waren so viele kleine beeindruckende Details in seinem schmucken fünfstöckigen Haus, von dessen riesigen Glasfronten Neruda beim Schreiben einen einmaligen Ausblick über die gesamte Stadt bis zum Hafen genoss.
Übrigens ist der Hafen von Valpo heute zwar wichtig, aber nicht mehr so bedeutend wie früher. Die Marine befindet sich traditionellerweise noch immer in Valpo an der Plaza Sotomayor, aber seit der Eröffnung des Panamakanals ereilte auch Valpo ein ähnliches Schicksal wie Punta Arenas und die Stadt verlor ihre Bedeutung als wichtige Hafenstadt.
So vergingen die Tage schnell in Valpo. Die Arbeit war vorerst fertig und schon war Paedi begeistert aus Rapa Nui zurück und die Reise konnte endlich weitergehen in den Norden Chiles und Argentiniens.
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