Wir näherten uns im Reisebus von El Calafate aus dem kleinen Städtchen El Chaltén. Schon aus weiter Ferne sahen wir die unverkennbaren Gipfel des Cerro Torre und des Cerro Fitz Roy imposant aus der übrigen Bergkette hervorragen. Für uns zählte der Cerro Fitz Roy mit seiner markanten Form schon immer zu den schönsten Bergen, der es sogar mit dem Matterhorn aufnehmen kann :-). So war es nur logisch, dass wir ihn aus nächster Nähe sehen wollten. In El Chaltén angekommen, statteten wir uns für die einfache Zweitageswanderung aus, bei der man beim Sonnenaufgang beste Aussichten auf den Cerro Fitz Roy geniessen kann. Bepackt mit dem üblichen Snickers-Porridge sowie der Fertig-Pasta machten wir uns auf den Weg zur Ranger-Station.
Irgendwie aber beschäftigte uns diese Viertageswanderung, von der wir am Vortag zufällig im Internet gelesen hatten. Sie war angeblich äusserst anspruchsvoll und nicht sehr populär, so dass man fast alleine sei auf dem Trek (noch! Wohlmöglich, weil im Lonely Planet noch nichts davon steht). Und landschaftlich einzigartig soll sie sein diese Wanderung, also genau was wir uns unter einem Camping-Erlebnis in den Bergen vorstellten. Wir mussten also abwägen, ob wir den Cerro Fitz Roy aus nächster Nähe sehen oder doch diese Mehrtageswanderung, den Circuito Huemul, machen wollten. Aufgrund der Wetterprognose war der Huemul Circuit nur möglich, wenn wir sofort aufbrachen, sofern man der patagonischen Wetterprognose überhaupt trauen kann. Spontan entschieden wir uns an diesem Tag, den Huemul Circuit zu begehen und rüsteten uns für diesen Trek um. Es gab noch einiges zu tun und zu besorgen im Dorf, um die strengen Ausrüstungsauflagen für die Wanderung zu erfüllen. So mussten wir etwa Stahlkarabiner, Klettergurte, Seile und Kochmaterial in der Ranger-Station vorweisen, bevor wir uns auf den Weg machen durften.
Nachdem wir uns den obligatorischen Film zur Rundwanderung in der Ranger-Station angeschaut hatten, in dem wir zehn Minuten lang auf alle möglichen Gefahren von Steinschlag, über unberechenbare Flussüberquerungen mittels Zip-Line, unmarkierte bzw. inexistente Pfade mit der Gefahr, die Orientierung zu verlieren, Gletscherspalten und schliesslich Rutsch- und Todesgefahr hingewiesen wurden, waren wir endlich bereit loszumarschieren. Zu diesem Zeitpunkt war es schon nach zwei Uhr nachmittags, aber egal, laut den Beschreibungen im Internet und dem kurzen Horrorfilm war ja der erste Tag auch der einfachste von den insgesamt vier Tagen. Zudem waren die Tage im patagonischen Sommer lang, da sollten wir die 15 Kilometerchen auf mittelschwerem Terrain schon meistern. Bei tiefblauem Himmel brachen wir auf, anfangs mit einer traumhaften Aussicht auf den schneebedeckten Cerro Fitz Roy. Tatsächlich war die Wanderung sehr angenehm, bis wir zu einem knietiefen Fluss, dem Río Túnel, kamen. Dieser war mit Schuhen nicht zu passieren. Noch einmal die Karte genau studieren, hatten wir eine Abzweigung verpasst? Einen eindeutigen Weg gab es nämlich nicht. Das war ganz anders als noch auf den Trampelpfaden beim O-Circuit im Torres del Paine Gebiet. Wir liefen dem Flusslauf hoch und runter und erkannten, dass der einzige Weg auf die andere Seite durch den Fluss führen musste. Sollte kein Problem sein, es war ja warm und eine kleine Abkühlung würde den Füssen guttun. Also Schuhe ausziehen und rüber. Doch dann der Schock: Nach zwei Schritten barfuss in diesem eiskalten Gletscherfluss fühlte sich das Wasser an den Füssen wie Nadelstiche an. Durch so kaltes Wasser mussten wir noch nie gehen in unserem Leben! Irgendwie haben wir es dann aber auf die andere Seite geschafft, wobei Gonca ob der Kälte ein wenig weinen musste :-). Der Erfolg machte uns ganz übermütig und die Euphorie hielt an, bis wir ca. zehn Minuten später an einem zweiten Arm des Río Túnel ankamen, der wieder nur barfuss zu passieren war. Zu diesem Zeitpunkt war die Sonne schon hinter dem Berg verschwunden und trotz guter Topo-Karte war uns nicht ganz klar, wie weit weg sich der vermeintliche Campingplatz noch befand, bzw. wie viele Flüsse wir bis dahin noch zu überqueren hatten. Beim zweiten Mal waren wir schon tapferer und zögerten weniger lang. Kurz vor der Dämmerung erreichten wir dann das Camp im schützenden Wald – Wild Camping versteht sich, ohne Annehmlichkeiten wie warmer Dusche oder fliessend Wasser. Von anderen Wanderern erfuhren wir, dass sie genauso zu kämpfen hatten mit dem kalten Wasser. Dieses war aktuell besonders hoch und konnte daher nicht wie üblich mit Schuhen passiert werden. Wir verzehrten unser Nachtessen und gönnten uns als Dessert eine Handvoll selbstgepflückter Calafate Beeren aus der Umgebung.
Gut ausgeruht starteten wir in den zweiten Tag. Die Landschaft änderte sich schnell und glich bald einer Hochgebirgstour. Nach einer halben Stunde Kraxelei über hohe Felsen erreichten wir eine Zip-Line, die über eine tiefe Schlucht führte. Den Klettergurt angezogen und mit Karabinern gesichert zogen wir uns und die Rucksäcke schnell auf die andere Seite. Das war deutlich angenehmer, als die Barfuss-Übung vom Vortag. Allmählich kamen wir dem grossen Túnel-Gletscher näher. Dessen unteren Teil, den Glaciar Río Túnel Inferior, galt es vorsichtig an der Kante zu überqueren, wobei auf Steinschlag von den steilen Hängen oberhalb geachtet werden musste. Als wir am anderen Ende des Gletscherstücks angelangten, wurde uns auch klar, woher der Río Túnel seinen Namen hat. Das Wasser kam nämlich vom weiter oben liegenden Glaciar Río Túnel Superior, untertunnelte dann den eben überschrittenen unteren Gletscherteil und kam am anderen Ende eisgekühlt wieder raus. Nach einem steilen Aufstieg mit Aussichten auf mehrere Gletscher tat sich am Pass oben eines der eindrücklichsten Panoramas für uns auf: der Anblick des Campo de Hielo Sur, dem drittgrössten zusammenhängenden Eisfeld der Erde nach den Polen, d.h. der Antarktis und Grönland. Eis soweit das Auge reicht, durchstochen von mächtigen Gletschern. Das wahre Ausmass dieses Eisfeldes kann man auf den Fotos nur erahnen. Nach dem Abstieg verbrachten wir eine eiskalte windige Nacht im Refugio Paso del Viento an einer kleinen Lagune.
Am dritten Tag ging es dann stets entlang dem mächtigen Viedma-Gletscher und schliesslich stetig aufwärts auf den Paso Huemul. Erst jetzt wurde uns bewusst, wie gross und mächtig der Viedma-Gletscher ist. Oben am Pass sahen wir, wie dieser gewaltige Gletscher am riesigen Lago Viedma ein Ende nahm und wie die winzigen Touristenboote ihm am Auslass beim Kalben zusahen. Hätten wir den Gletscher vom Schiff aus gesehen, könnten wir uns seine wahre Grösse nicht annähernd vorstellen. Der Anstieg auf den Pass war schon streng, aber was uns wirklich herausforderte, war der Abstieg durch den dicht bewachsenen Lenga-Wald! Das war mit Abstand der steilste Abstieg von einem Berg, den wir je gemacht haben. Wir mussten uns an die Äste und Wurzeln der Lengas klammern, um einigermassen kontrolliert den Berg runterzukommen. Mittendrin wurden wir durch ein imposantes Zischen erschreckt, als zwei Kondore knapp über unsere Köpfe den Berg runterschossen. Für die dritte Nacht war der Schlafplatz nicht genau definiert und die Handvoll Zelte verteilte sich an unterschiedlichen Stellen. Wir waren an diesem Abend ganz alleine unter einem schönen grossen Lenga-Baum. Gleich nachdem wir unser Zelt aufgestellt hatten, gingen wir zum Ufer des Lago Viedma, wo wir auf einem grossen Stein die Aktivitäten des Viedma Gletschers beobachteten konnten. So ein Naturspektakel ist besser als jeder Kinofilm.
Nach einer etwas verregneten Nacht machten wir uns auf die letzte Etappe dieses insgesamt 60 Kilometer langen Treks. Nachdem sich das Wetter frühmorgens noch gebessert hatte, zogen nun wieder schwere Wolken auf und der Wind fegte über uns hinweg. Es bildeten sich gigantische Regenbogen über dem steilen Hang, den wir noch am Vortag mühevoll runtergeklettert waren. Nach einigen Kilometern entlang des Lago Viedma trennte uns nur noch eine letzte Hürde von El Chaltén, die letzte Flussüberquerung. Hier war der Río Túnel zu einem mächtigen und reissenden Fluss angeschwollen, den wir nun im strömenden Regen mittels einer Zip-Line passierten, bevor wir uns auf den Rückweg nach El Chaltén machten und uns auf eine warme Dusche freuten.
Retrospektiv können wir sagen, dass der Circuito Huemul eine anspruchsvolle Wanderung war, aber mit etwas alpiner Erfahrung und entsprechender Vorsicht sicherlich gut meisterbar ist; entgegen manchen sehr dramatischen Berichten im Internet. Wir haben gemerkt, dass dieser Trek zunehmend populärer wird und wohl schon kein Geheimtipp mehr ist. Teilweise waren auch Leute unterwegs, die keinerlei Erfahrung mit einer Zip-Line hatten und dabei auf unsere Hilfe angewiesen waren und sonst auch hart zu kämpfen hatten. Unser Fazit zu dieser Rundwanderung ist, dass der Circuito Huemul eine der schönsten und sicher auch anspruchsvolleren Wanderungen war, die wir bisher gemacht haben! Retrospektiv war der grösste Challenge wohl die Flussüberquerung am ersten Tag, dem vermeintlich einfachsten Tag des Treks.
Die nächsten zwei Tage zeigte sich keine Sonne mehr in El Chaltén und so verliessen wir das Städtchen wieder in Richtung El Calafate. Irgendwann kommen wir wieder, und dann wird der Cerro Fitz Roy nicht nur angeschaut, sondern auch gleich bestiegen!
Comments